Christus erblicken

(Ergänzender Text zu Band 6, orig. AE I 3)

Nachfolgender Aufsatz bildet das dritte Kapitel des ersten Bandes „Asketische Erfahrungen“ des heiligen Bischofs Ignatij. In der deutschen Edition ist dieser Text nicht enthalten.

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Die Übersetzung darf unter Angabe der Quelle (Ignatij.de) frei verwendet werden. Kommerzielle Verwendung bedarf unserer Zustimmung.


Christus erblicken

Willst du Jesus Christus sehen? – Komm und sieh! (Joh 1,46), spricht Sein Apostel.

Der Herr Jesus Christus gab das Versprechen, mit Seinen Jüngern bis zum Ende der Welt zusammen zu bleiben (Mt 28,20). Er ist mit ihnen – im heiligen Evangelium und in den Mysterien der Kirche. Der Hieromartyrer PetrOs von Damaskus sagt: Christus ist im Evangelium verhüllt. Wer Ihn finden will, muss all seinen Besitz verkaufen und ein Evangelium erstehen – nicht allein, damit er Christus durch die Lektüre findet, sondern um Ihn in sich aufzunehmen, indem er Seinem irdischen Dasein nacheifert. Wer Christus sucht, spricht der heilige Maximus, muss Ihn nicht draußen suchen, sondern in sich, das heißt, er muss mit Leib und Seele sein wie Christus, so sündenlos sein wie menschenmöglich.[1]  Für jene, die nicht an das Evangelium glauben, existiert Er nicht – sie sehen Ihn nicht, weil ihr Unglaube sie mit Blindheit schlägt.

Willst du Christus hören? – Er spricht zu dir durch das Evangelium. Ignoriere Seine erlösende Stimme nicht: Fliehe das sündige Leben und lausche aufmerksam der Lehre Christi, die ewiges Leben ist.

Willst du, dass dir Christus erscheint? Er wird dich lehren, wie du dies erreichen kannst: Wer Meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der Mich liebt; wer Mich aber liebt, wird von Meinem Vater geliebt werden und auch Ich werde ihn lieben und Mich ihm offenbaren (Joh 14,21).

Gott hat dich durch die Taufe als Sohn angenommen. Im Mysterium der heiligen Eucharistie bist du die engste Verbindung mit Gott eingegangen: Bewahre diese Kindschaft, erhalte diese Einheit. Stelle die Reinheit und Erneuerung, die dir in der heiligen Taufe zuteil wurden, durch reuevolle UmkehrUmgeisten griech. metanoia: die Hinwendung des Nous (des menschl. Geistes) von der Sünde zu Gott durch Reue und Umkehr immer wieder her, nähre die Einheit mit Gott durch ein Leben nach dem Evangelium und die möglichst häufige Kommunion der heiligen Sakramente Christi. Bleibt in Mir und Ich bleibe in euch (Joh 15,4), sprach der Herr. Wenn ihr Meine Gebote haltet, werdet ihr in Meiner Liebe bleiben (Joh 15.10). Wer Mein Fleisch isst und Mein Blut trinkt, der bleibt in Mir und Ich bleibe in ihm (Joh 6,56).

Bewahre dich vor Träumerei, die dir vorgaukeln könnte, dass du den Herrn Jesus Christus siehst, dass du Ihn fühlst und in dir trägst. Dies ist das bloße Spiel einer aufgeblasenen, stolzen Eigenliebe! Es ist verderbenbringende Selbsttäuschung! Diese Art der Selbstverführung nennen die heiligen asketischen Autoren „Einbildung“. Der heilige Johannes Karpathios erklärt Einbildung so: Einbildung ist Trunkenheit der Seele an Ehrsucht und eitle Aufgeblasenheit des NousNous Geist, Intellekt, Geistkraft des Menschen. "Das, was denkt"..[2] Von dieser Art der Selbstverführung sagt der heilige Apostel PaulusNiemand soll euch durch zur Schau gestellten Demutsgeist und Engelsdienst verführen, der lehrt ohne eingeweiht zu sein, sich vernunftlos und nach dem Geist seines Fleisches wichtig macht (Kol 2,18 kslw.). Der heilige Gregor vom Sinai sprach: Die nach ihrem Dünken reden, wurden durch den Geist der Einbildung verführt, bevor sie rein geworden sind. Auf solche beziehen sich die Worte der Spruchsammlung: „Siehst du jemand, der sich selbst für weise hält – mehr Hoffnung gibt es für den Toren als für ihn“ (Spr 26,12).[3] Befolge die Gebote des Herrn – und auf wunderbare Weise wirst du den Herrn in dir und in deinen Charakterzügen erblicken. So erkannte der heilige Apostel Paulus in sich den Herrn, und er forderte diese Vision von den Christen. Jene, die sie nicht erlangt hatten, betrachtete er als noch unreif in dem Zustand, der einem Christen angemessen ist.

Wenn du ein sündiges Leben führst und deine Leidenschaften befriedigst, zugleich aber denkst, du würdest den Herrn Jesus Christus lieben, dann wird dich Sein geliebter Jünger, der beim Abendmahl an Seiner Brust lag, der Selbsttäuschung überführen. Er spricht: Wer sagt: „Ich habe Ihn erkannt!“, aber Seine Gebote nicht hält, ist ein Lügner und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer sich aber an Sein Wort hält, in dem ist die Gottesliebe wahrhaft vollendet; daran erkennen wir, dass wir in Ihm sind (1 Joh 2,4-5).

Wenn du deinen sündigen Willen erfüllst und so die Gebote des Evangeliums verletzt, dann wird der Herr Jesus Christus dich denen zurechnen, die Ihn nicht lieben. Wer Mich nicht liebt, spricht Er, hält Meine Worte nicht (Joh 14,24).

Eile nicht unbedacht und ohne gewissenhafte Betrachtung deiner Kleidung in einem zerrissenen und befleckten Hemd zum Gottessohn auf die Hochzeit, zur Verbindung mit Ihm – auch wenn Du zu dieser Hochzeit gerufen bist wie jeder Christ. Denn dieser Hausherr verfügt über Diener, die dir Hände und Füße binden und dich in die äußerste, gottferne Finsternis hinauswerfen werden (vgl. Mt 22,11-13).

Jene Diener, in deren Macht übergeben wird, wer anmaßend, nicht durch ReueUmgeisten griech. metanoia: die Hinwendung des Nous (des menschl. Geistes) von der Sünde zu Gott durch Reue und Umkehr gereinigt, vielmehr vor Eigenliebe und Hochmut strotzend nach Liebe und sonstigen höheren geistlichen Zustände sucht, sind die Dämonen, die gefallenen Engel. Die äußerste Finsternis – das ist die Blindheit des menschlichen Geistes, der Zustand der Leidenschaften und des Fleisches. Die Sünde und die gefallenen Geister herrschen in einem Menschen, der sich in diesem Zustand befindet. Die sittliche Freiheit ist ihm genommen: Er ist an Händen und Füßen gebunden. Das Gebundensein an Händen und Füßen bezeichnet den Verlust der Fähigkeit zu gottgefälligem Leben und geistlichem Fortschritt. In diesem Zustand sind alle Selbstgetäuschten.  Aus dieser bedauernswerten Lage macht sich der Mensch dadurch frei, dass er sich seiner Verirrung bewusst wird, sie überwindet und den erlösenden Weg der reuevollen Umkehr betritt.

Schwer ist es, die Selbsttäuschung hinter sich zu lassen. Am Tor steht eine Wache, die Türen sind mit schweren eisernen Schlössern und Riegeln verschlossen, das Siegel des Höllengrunds liegt auf ihnen. Schlösser und Riegel – das sind der tief im Herzen verborgene Stolz der Selbstgetäuschten und ihre Ehrsucht, aus der sich all ihre Werke speisen; es sind Falschheit und List, die den Stolz und die Ehrsucht verhüllen und unter der Maske des guten Willens, der Demut und der Heiligkeit verstecken. Ein unzerstörbares Siegel aber ist es, dass sie ihre Werke der Selbsttäuschung für gnadenhaft halten.

Kann einer, der seiner Selbsttäuschung unterliegt und in Lüge und Betrug lebt, die Gebote Christi befolgen, die Wahrheit aus der Wahrheit, aus Christus sind? Kann einer die Wahrheit mögen, der die Lüge liebt, sich an ihr ergötzt, sie verinnerlicht und sich im Geiste mit der Lüge verbunden hat? Nein! Es wird sie vielmehr hassen und zu ihrem blinden Widersacher und Verfolger werden.

Wie werdet ihr euch aber fühlen, ihr unglücklichen Träumer, die ihr euch einbildet, euer Erdenleben in den Umarmungen Gottes verbracht zu haben, wenn euch das Wort des Erlösers ereilt: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Gesetzlosen! (Mt 7,23).

Mein wahrhafter Freund in Christus! Komm und nahe dich dem Herrn Jesus Christus auf dem Wege der Gebote des Evangeliums. Erkenne Ihn darin, befolge sie und erweise und bezeuge so deine Liebe zum Herrn Jesus. Er Selbst wird Sich dir zeigen, an dem Tag und zu der Stunde, die Ihm allein bekannt sind. Zugleich mit Seinem Erscheinen wird Er in deinem Herzen unaussprechliche Liebe zu Sich ausgießen. Die göttliche Liebe ist nicht irgendetwas, das dem gefallenen Menschen zugehört: Sie ist Gabe des Heiligen Geistes (Röm 5,5), die allein von Gott in Gefäße ausgegossen wird, die von der Sünde gereinigt sind, in Gefäße der Demut und Keuschheit.

Vertraue dich Gott an, aber nicht dir selbst: Dies ist viel sicherer. Er ist dein Schöpfer. Als du dem bitteren Fall in die Sünde unterworfen wurdest, nahm Er für dich das Menschsein an, gab Sich dem Kreuztod hin, vergoss für dich Sein Blut, brachte dir Seine Göttlichkeit dar: Gäbe es etwas, das Er nicht auch für dich tun würde? Bereite dich auf den Empfang Seiner Gaben dadurch vor, dass du dich reinigst: Das ist deine Aufgabe. Amen.

 

 

 

 

 



[1] Des hl. Petros von Damaskus Erstes Buch, der Aufsatz Über die vierte Vision (PhilokaliePhilokalie Eine Sammlung von Weisheitssprüchen und -schriften der heiligen Väter der orthodoxen geistlichen Praxis (4. - 15. Jh.); zuerst 1782 veröffentlicht, es gibt unterschiedliche Ausgaben. In deutsch: Philokalie der Väter der heiligen Nüchternheit (5 Bände, Beuron 2016)., Bd. 3; russ.: Bd. 5)

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