Leskow und die Ingenieure

– Anargyroi –

Das sind Heilige, die sich dem selbstlosen Dienst an ihren Mitmenschen verschrieben haben. Zumeist bezeichnet man damit heilige Ärzte, die ihre Heilkunst nicht zur Bereicherung ausübten, sondern um den Menschen das zu geben, was sie selbst als Talent von Gott empfangen hatten.

Erscheint am 18. Februar 22′
978-3-96321-080-8144 Seiten︱13,50

In seiner Erzählung „Anargyroi – Edelmütige Ingenieure“ [Инженеры-Бессребреники] geht es Nikolai Leskow um drei Absolventen einer elitären Petersburger Kadetten- und Offiziersschule für „Ingenieure“. Heute würden wir „Pionieroffiziere“ dazu sagen, damals war die hohe Zeit des Eisenbahn- und Festungsbaus und der Bauingenieur ein gefragter Mann.

Einer der drei: Ignatij Brjantschaninow.

Leskow sammelt Zeitzeugenberichte und gestaltet daraus ein plastisches Bild von drei Idealisten, die auf je eigene Weise der Korruption und überhaupt den Gepflogenheiten der „Welt“ die Stirn bieten wollten. Er fragt weniger nach historischer Belegbarkeit – das tut auch eine Heiligenvita nicht – und widmet sich ganz dem Eindruck, den seine Protagonisten bei ihren Zeitgenossen hinterlassen haben. Seine Erzählungen aus dem Zyklus „Die Gerechten“ bezeichnet er als „Apokryphen“: nicht ausgedacht, sondern Skizze einer Zeit, die vor uns unter seiner Feder lebendig wieder aufersteht.

Wir veröffentlichen an dieser Stelle als „Leseprobe“ die ersten fünf der insgesamt dreißig Kapitel. Einiges davon findet sich auch in dem Video „Meine Trauer“ wieder, das die Jugend Ignatijs und seines Busenfreunds Michail Tschichatschow erzählt.

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Anargyroi – Edelmütige Ingenieure

Erstes Kapitel

Unter den Zöglingen der Petersburger Ingenieurschule trat in den dreißiger Jahren des zu Ende gehenden (19.) Jahrhunderts eine frische und edle Strömung in Erscheinung, die man als Streben nach unbefleckter Ehrbarkeit, ja sogar nach Heiligkeit bezeichnen könnte. Unter den jungen Leuten, die sich dieser Bewegung verschrieben hatten, waren ihr drei ganz besonders eifrig verfallen: Brjantschaninow[1], Tschichatschow[2] und Nikolai Fermor[3]. Diese Schüler der Ingenieurschule waren allesamt recht aufschlussreiche Charaktere, und ihr Schicksal verdient allgemeines Interesse. Jedenfalls birgt es vielerlei Anhaltspunkte, anhand derer sich das Wesen der dreißiger Jahre beschreiben lässt und auch heutige Meinungsverschiedenheiten zur Bedeutung der Schule und zur die Unabhängigkeit des menschlichen Charakters erhellt werden können.

Dmitrij Alexandrowitsch Brjantschaninow war der Zündfunke dieser Bewegung: Er leitete den Zirkel der Liebhaber und Verehrer von „Heiligkeit und Ehre“, daher wird über ihn als erstes zu sprechen sein. Es scheint, dass Frömmigkeit und Tugend Brjantschaninow angeboren waren. Zumindest ist aus der über ihn vorliegenden Lebensbeschreibung bekannt, dass er von Kindheit an gottesfürchtig aufwuchs, und wenn man den phrenologischen Lehren von Gall und Lavater Glauben schenken will, so wies der Schädel Brjantschaninows Anzeichen einer „erhabenen Gottesverehrung“ auf.

Als Junge war er von überaus ansehnlicher und einnehmender Gestalt, die ihn in Verbindung mit der Stärke seines Charakters und der edlen Manier sehr anziehend machte. Brjantschaninow war jedoch von Kindheit an ein vorsichtiger Mensch; er traute nicht leichtfertig allen möglichen Schmeicheleien und hielt sich allgemein stets beherrscht.

So hinterließ er vom ersten Tag an den besten Eindruck.

Schon bald nach seiner Aufnahme in die Ingenieurschule wurde diese vom späteren Zaren Nikolai Pawlowitsch besucht, der zu jener Zeit noch Großfürst war. Er kam oft hierher, doch diesmal verfolgte er ein besonderes Ziel, nämlich die Auswahl seiner Stipendiaten.

Nikolai Pawlowitsch hatte die Gewohnheit, die Kinder für das Stipendium seines Namens selbst auszuwählen. Dabei ließ er sich nicht vom Ergebnis der Aufnahmeprüfung leiten, sondern vertraute seinem eigenen persönlichen Eindruck – das heißt, der Großfürst erklärte jene zu seinen Stipendiaten, die ihm am besten gefielen.

Es war bekannt, dass dieser Regent sehr auf seine Intuition vertraute und sich gewöhnlich daran orientierte, was man so den ersten Eindruck nennt. Brjantschaninow nun beeindruckte ihn so sehr, dass der Großfürst ihn nicht nur auf der Stelle zu seinem Stipendiaten erklärte, sondern dem Jungen befahl, sich sogleich anzuziehen und am Tor auf ihn zu warten. Er nahm ihn mit zu sich in die Kutsche und brachte ihn, als sie im Anitschkow-Palais angelangt waren, in die Gemächer der Großfürstin, der späteren Zarin Alexandra Fjodorowna.[4] (Die „Lebensbeschreibung des Bischofs Ignatij Brjantschaninow“ sagt, dass der Großfürst den Kadetten geheißen habe, in den Palast zu kommen, doch General Pawel Fjodorowitsch Fermor, der Freund Brjantschaninows, erinnert sich, dass Nikolai Pawlowitsch diesen mit sich genommen habe. – Anm. v. Leskow).

Die Großfürstin hielt sich gerade in ihrem Arbeitszimmer auf; sie bemerkte hinter ihrem Schreibtisch gar nicht, wie ihr Gemahl in Begleitung Brjantschaninows das Zimmer betrat, und drehte sich nicht nach ihnen um.

Der Großfürst nahm Brjantschaninow bei der Schulter und stellte ihn hinter den Stuhl der Herrscherin; er selbst aber umarmte leise seine Gemahlin, küsste sie auf den Kopf und sprach zu ihr auf französisch:

„Ich habe meinen neuen Stipendiaten mitgebracht, um ihn dir vorzustellen. Schau ihn dir an.“

Die Herrscherin drehte sich auf dem Stuhl um, betrachtete den Jungen durch ihre Lorgnette und sagte mit einem zufriedenen Lächeln:

„Ein wunderbarer junger Mann.“

Anschließend erhielt Brjantschaninow am Hof ein üppiges Frühstück und ward in die Schule entlassen, wo man ihn schon erwartete und sogleich der eindringlichsten Befragung unterzog, wie es ihm ergangen sei.

Der bescheidene, aber ehrliche junge Mann erzählte alles getreulich und nach der Reihe.

Diese Gunst des Großfürsten war für ihn von großem Vorteil.

Die Schulleitung widmete Brjantschaninow von diesem Tage an ihre besondere Aufmerksamkeit. Man achtete und schaute genauestens auf den Charakter und die Fähigkeiten des Jungen, und als sich der Großfürst bei nächster Gelegenheit danach erkundigte, wie es Brjantschaninow gehe, antwortete man ihm völlig gerechtfertigt:

„Er ist ein Vorbild in jeder Hinsicht.“

„Das freut mich sehr“, antwortete Nikolai Pawlowitsch erfreut, denn seine Weitsichtigkeit hatte in diesem Falle willkommene Bestätigung erfahren.

„Von welcher Art sind denn seine Neigungen und sein Charakter?“, fragte der Herrscher weiter.

„Er ist sehr religiös und von hervorragender Sitte.“

„Ich bin sehr erfreut und wünschte nur zu sehr, dass auch die anderen wären wie er. Möge er ihnen als Vorbild dienen.“

Diese Worte des Herrschers wurden den Zöglingen augenblicklich bekanntgemacht, und schnell bildete sich unter ihnen ein Kreis von Jungen, die Brjantschaninow so gut wie möglich nachzueifern wünschten; Brjantschaninow selbst wurde zum Anführer dieses Zirkels bestimmt.

Zweites Kapitel

Die besondere Gunst des Großfürsten erwies ihre Wirkung auf Brjantschaninow dergestalt, dass er plötzlich sozusagen noch schneller reifte und noch ernsthafter wurde. Sein Zirkel umfasste zehn Mitglieder, unter denen schon bald Mischa Tschichatschow die besondere Freundschaft Brjantschaninows gewann; diesem offenbarte Brjantschaninow seine Seele und seine insgeheimen Gedanken, in denen sich seine Wege und Ziele widerspiegelten.

„Das Wichtigste in unserer derzeitigen Lage ist es“, sagte er zu Tschichatschow, „dass wir uns vor dem Stolz bewahren. Ich weiß nicht, wie ich mich für die unverdiente Gnade des Großfürsten dankbar erweisen soll; jedoch denke ich beständig darüber nach, wie ich bewahren kann, was wertvoller ist als alles andere: Man muss auf sich achten, damit man nicht anfängt, sich zu überheben. Ich bitte dich: Sei mir ein Freund, beobachte und warne mich, auf dass ich die Reinheit meiner Seele nicht verliere.“

Tschichatschow sagte ihm diese Hilfe zu.

„Schön“, antwortete er, „ich werde dir stets die Wahrheit sagen, obwohl das nicht nötig sein wird, denn du hast schon das Mittel gefunden, wie du dich vor der Versuchung bewahrst.“

„Was willst du damit sagen?“

„Du sagtest selbst: Gar nicht erst damit anzufangen. Und wenn du niemals damit anfängst, dann kommt es auch nicht dazu …“

„Du hast recht“, antwortete Brjantschaninow, nachdem er darüber nachgedacht hatte, „aber dennoch … beobachte mich. Ich befürchte, dass mich gerade solche Menschen, die für mich Vorbild sein sollen, auf diesen Weg bringen könnten. Schließlich sollen wir ‚gegenüber den Vorgesetzten gehorsam sein‘ …“

 „Ja, das ist so“, antwortete Tschichatschow und bemerkte im gleichen Augenblick, wie ein freudiger Gedanke Brjantschaninows Antlitz erhellte: Er nahm seinen Freund bei den Händen, drückte sie fest in seine eigenen, wobei er voller ernstester Erhebung aufschaute und wie unter einer Kuppel tiefster Ruhe deklamierte:

„Ich sehe ein wahrhaftes Mittel, sich nicht der Gefahr der Versuchung auszuliefern, die von den Menschen ausgeht, und vielleicht errätst du, worin es besteht …“

„Wie mir scheint, kann ich erkennen, woran du denkst.“

„Ich denke, dass man unablässig auf den Gottmenschen schauen muss.“

„Recht hast du.“

„Glaube mir: Wenn wir unseren gedanklichen Blick nicht von ihm abschweifen lassen und uns eifrig bemühen, ihm in allem zu folgen, dann besteht für uns keinerlei Gefahr. Er wird uns davor bewahren, in irgendwelchen Lebenssituationen den Halt zu verlieren.“

„Das glaube ich.“

„So ist er mit uns und wir in ihm und er in uns. Mir scheint, dass ich gerade in diesen Worten einen neuen und erstaunlichen Sinn gefunden habe.“

„Ich ebenso.“

Die beiden umarmten sich feierlich und wurden in diesem Augenblick zu unzertrennlichen Freunden. Dabei war ihre Freundschaft von einem besonderen Asketismus geprägt. Sie hielten diese Freundschaft miteinander, um einer den anderen im gemeinsamen Bestreben zu unterstützen, sich von den weltlichen Verlockungen fernzuhalten und dem für sie so erhabenen Ideal eines reinen Lebens im Geiste der christlichen Lehre entgegenzustreben.

Drittes Kapitel

Unter den verschiedenen Wegen, auf denen russische gebildete Menschen mit ähnlichen Gedanken zu jener Zeit dem christlichen Ideal nachstrebten, standen zwei besonders im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: der biblische Pietismus und die Neigung zum Katholizismus. Brjantschaninow und Tschichatschow aber folgten keiner dieser Richtungen, sondern erwählten eine dritte, die sich damals nur andeutete, später aber noch recht lange Zeit in der Gesellschaft präsent blieb: Es war dies die Orthodoxie im Geiste des Metropoliten Michail[5]. Zu jener Zeit waren aus verschiedenen Gründen viele Menschen mit frommen Ideen und edler Gesinnung nicht in der Lage, alles „nach dem Katechismus anzunehmen“. Sie wollten aber auch nicht „fremden Stimmen“ lauschen, sondern fanden für ihre quälerischen Zweifel Frieden in den hochgeschätzten Kommentaren und Lehren Michails. Religiösen Frieden mit seinem Gewissen zu schließen – wer unter den Menschen, die ein Gewissen ihr Eigen nennen, hätte nicht diesen Wunsch? Daher besaß Michail eine große Zahl an Verehrern, die ihm auch dann noch treu blieben, als man in seinen Schriften das eine und andere für „unangemessen“ erklärt hatte.

Brjantschaninow und Tschichatschow zählten zu dieser Schar der Verehrer des Metropoliten Michail. (Im Buch über Brjantschaninows Leben heißt es auf S. 15, dass „zu jener Zeit verschiedenartige religiöse Ideen die nördliche Hauptstadt beschäftigten, miteinander stritten und kämpften“. Allerdings ist nicht ausgeführt, wie dieser Kampf Brjantschaninow und Tschichatschow beeinflusste – ohne Einfluss konnte er gewiss nicht geblieben sein. Mündliche Erzählungen darüber, dass sie die Schriften des Metropoliten Michail lasen, dürften keineswegs fern der Wahrheit sein. – Anm. v. Leskow) Sie waren offen für seine religiösen Ansichten, eigneten sich diese ohne Vorbehalt an und folgten seiner Richtung. So konnten sie nicht dem der russischen Natur fremden Einfluss des Katholizismus erliegen und vermieden zugleich auch jene Loslösung von jeglicher kirchlichen Wärme, zu der sich Menschen genötigt sahen, die in streng pietistischen Traditionen ihr Heil suchten.

Die beiden Jungen begannen frühzeitig, ein streng enthaltsames Leben zu führen, und es versteht sich, dass dies nicht nur leibliches Fasten betraf, sondern vor allem darin lag, sich keine Zornesregungen, Lügen, Erregtheit, Nachträglichkeit und Lobhudelei zu erlauben. Ihrem Charakter verlieh dies einen Zug von Edelmut und Tugend. Den Mitstudenten und später auch der Schulleitung blieb dieser Zug nicht verborgen und verschaffte Brjantschaninow unter allen Zöglingen einen Rang, den an der Ingenieurschule kein anderer vor oder nach ihm je erreicht hat. Er genoss allseitiges Vertrauen, und niemand musste seine Offenherzigkeit ihm gegenüber später bereuen. Denn auch offenherzige Gespräche mit ihm verliefen in einer besonderen, geregelten Art, ganz im Einklang mit dem Charakter des tugendhaften Jünglings, der schon früh von seinen Kameraden den Spitznamen „Mönch“ erhalten hatte. Es war ausgeschlossen, mit Brjantschaninow über irgendwelche schulischen Flegeleien zu reden, denn stets war er ernsthaft und mochte den geistlosen Schabernack der Schüler nicht, der in den geschlossenen russischen Lehranstalten damals weit verbreitet war. Weder Brjantschaninow noch Tschichatschow beteiligten sich an irgendwelchen Jugendstreichen. Sie bekannten offen, davon nichts überhaupt nur hören zu wollen, denn bei späteren Befragungen würden sie nicht lügen können, wollten aber auch niemanden bezichtigen. Eine solch unbeirrbare Offenheit versetzte sie in eine besondere, wunderbare Lage: Sie waren niemals gezwungen, jemanden durch Lügen in Schutz zu nehmen, und sie mussten auch über niemanden jemals Zeugnis ablegen. Den Lehrern war der „Geist“ Brjantschaninows und Tschichatschows bekannt, daher verzichteten sie jedes Mal auf deren Befragung, wann immer es geboten erschien, irgendeinen Kadettenstreich aufzuklären. Die Mitschüler vertrauten sich in dieser Hinsicht Brjantschaninow und Tschichatschow auch gar nicht an; dafür wandten sie sich in allen anderen Fällen, wenn ihnen irgendein ernstes Missverständnis begegnete oder jemand Trauer und Leid verspürte, vertrauensvoll an die „tugendhaften Kameraden-Mönche“ und fanden bei ihnen stets wärmste und freundschaftlichste Anteilnahme. Auch bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Mitschülern wandte man sich an Brjantschaninow, und seine Meinung galt als entscheidend, auch wenn er selbst einem Urteil über andere stets auswich und sprach: „Mich hat niemand berufen, andere zu richten und ihren Besitz aufzuteilen.“ Er selbst teilte dabei mit Bedürftigen alles, was er besaß.

Tschichatschow hatte, obwohl von gleichem Geiste wie sein Freund Brjantschaninow, eine geringere Bedeutung; einerseits, weil Brjantschaninow über auffallendere Fähigkeiten und eine ausgeprägte Redegewandtheit verfügte, andererseits, weil der von seinem Alter her jüngere Tschichatschow sich aus freien Stücken zurückhielt und es vorzog, seinem Freund stets den Vortritt zu lassen.

Ihr Einfluss auf die Mitschüler war groß; beide lernten hervorragend, so dass die Schulleitung hoffte, aus ihnen würden vortreffliche Ingenieure[6] werden. Darin war sich auch der Großfürst sicher, der sich „sehr wünschte, ehrbare Menschen im Ingenieurwesen zu haben“.

Die beiden Freunde schlossen im Jahr 1826 ihre Kadettenausbildung ab, erhielten ihren angesehenen Ruf bis zum letzten Tage ihrer Anwesenheit in der Lehranstalt aufrecht, hinterließen dort den besten Eindruck sowie einige Nacheiferer, darunter Nikolai Fermor, über den im Weiteren noch zu berichten sein wird, der sich durch seine Geradlinigkeit und sein unbeugsames Verhalten schon bald auszeichnete.

Viertes Kapitel

Nach ihrer Kadettenausbildung an der Ingenieurschule bezogen Brjantschaninow und Tschichatschow ein freies Quartier und wohnten zusammen im großen und recht hässlichen Hause der Lopatins am Newski-Prospekt. Heute gibt es dieses Haus nicht mehr – es wurde abgerissen, und an der Stelle seines weitläufigen Hofs verläuft jetzt die Puschkinstraße.

Der Kontrolle entzogen, der die Freunde in der geschlossenen Lehranstalt unterworfen gewesen waren, eröffnete sich ihnen eine größere Freiheit, ihre Zeit nach ihrem Wunsch und Geschmack zu verbringen. Davon machten sie auch Gebrauch. Ihr Leben führten sie in aller Strenge, rein monastisch, und sie beachteten die Fastentage; sie gaben sich keinerlei Vergnügungen und Zerstreuung hin, stattdessen besuchten sie täglich die Kirche. Allmorgendlich erhoben sie sich sehr früh und gingen zu Fuß zum Kloster Newski-Lawra, wo sie an der Frühliturgie teilnahmen und anschließend beim stimmgewaltigen Mönchsdiakon Viktor Tee tranken. (Der Bericht über die Nähe Brjantschaninows und Tschichatschows zu Viktor erscheint merkwürdig und eher unwahrscheinlich. Es ist bekannt, dass die beiden in der Lawra ihren geistlichen Vater aufsuchten, und auch, dass es Personen gab, die sie vor zu viel Frömmigkeit bewahren wollten und diesbezüglich große Anstrengungen unternahmen. Wäre es da nicht denkbar, dass die Jünglinge ihrerseits zu verbergen versuchten, wen genau sie da in der Lawra besuchten, und ihre Bekannten einfach im Glauben ließen, es sei der lebensfrohe Viktor?) Über diesen Viktor ist überliefert, dass er sei ein recht schwacher Mönch gewesen sei – er führte keinesfalls ein nüchternes Leben und war grob zu jedem. Doch all das vergab man ihm seiner guten Stimme wegen und weil er bei feierlichen Gottesdiensten gar meisterlich die Solisten zu dirigieren wusste. Als Mensch schließlich war er sehr gutmütig, geradeheraus und in einer solchen Weise offenherzig, dass er niemals arglistig gehandelt oder sich verstellt hätte. Mit dieser Direktheit hielt er den bekannten Andrej Nikolajewitsch Murawjow[7] in beständigem Schrecken, den er „widerlich“ fand und dessen junge „Saint-Cyristen“[8] er „Spitzbuben“ nannte und einfach hinausjagte.

Nach ihrem Gebet bei der Frühliturgie und der Teerunde bei Viktor gingen sie in ihre Ingenieurschule, nunmehr in die Offiziersklasse, verbrachten dort die vorgeschriebene Zeit, um anschließend in ihr Heim zurückzukehren, bescheiden zu speisen und den Rest des Tages beim Lernen zu verbringen; im Anschluss lasen sie theologische und religiöse Bücher, wobei sie den meisten davon wiederum die Schriften des Metropoliten Michail vorzogen. (Michail Desnizkij, Absolvent der Moskauer Akademie, war Gemeindepriester, später Hofpriester am Winterpalais, dann Priestermönch bei Hofe und ab 1818 Metropolit von Sankt Petersburg. Er starb am 24. März 1821. Bis heute werden seine Schriften von vielen geliebt und hoch geschätzt. Zu kaufen bekommt man sie jedoch nur selten, und Fachleute fanden im Übrigen darin große Unzulänglichkeiten. – Anm. v. Leskow)

Die sanfte, friedfertige, christliche Art dieses Autors hatte auf beide jungen Leute einen starken Einfluss und veränderte ihren Lebensweg und ihr Handeln. Der erste ihnen von Michail zugefügte Einschnitt wird darin sichtbar, dass sowohl Brjantschaninows als auch Tschichatschow nicht gewillt waren zu kämpfen und sich außer Stande sahen, all das zu leisten, was ihr Militärdienst von ihnen verlangte und worauf ihre militärische Spezialausbildung sie vorbereitet hatte. Zweitens standen sie nicht im Einklang mit jenem Geist, der damals im Ingenieurwesen vorherrschte, das zu dieser Zeit von General Lomnowskij[9] inspiziert wurde; dessen Name war im Zusammenhang mit Käufen von Marmor auf Staatskosten in die Geschichte eingegangen, weshalb er auch „der Marmorne“ genannt wurde. Im Ingenieurwesen arbeiteten damals viele in die eigene Tasche und waren bemüht, dies „ordentlich und brüderlich“ zu organisieren – es hatte sich ein System der „Selbstbelohnung“ entwickelt.

Die „Mönche“ aber hatten weder vor, Menschen zu töten, noch den Staat zu betrügen. Deshalb betrachteten sie – vielleicht aus Unerfahrenheit – für sich eine militärische und Ingenieurskarriere als unmöglich und entschieden sich dazu, sie zu meiden. Diesen Entschluss trafen sie ohne Rücksicht darauf, wie sehr ihnen doch diese Karriere gewunken hatte, bedenkt man ihre guten verwandtschaftlichen Beziehungen und die besondere Gunst des Zaren Nikolai Pawlowitsch gegenüber Brjantschaninow. Denn auch wenn der Herrscher nicht mehr so häufig wie früher über Brjantschaninow unterrichtet wurde, wäre es doch für diesen, wenn er gewollt hätte, dank der angesprochenen verwandtschaftlichen Beziehungen ein Leichtes gewesen, sich in Erinnerung zu bringen, und gewiss wäre ihm allseitige Unterstützung gewährt worden. Brjantschaninow aber ersuchte nicht nur selbst nie darum, sondern hielt auch seine Verwandten von jeglichen Schritten in dieser Richtung ab. Er war bestrebt, sich bescheiden und unauffällig zu verhalten, so als habe er etwas ganz anderes im Sinne.

Ebenso verhielt sich auch Tschichatschow. Währenddessen hatten beide die Offiziersklassen absolviert und waren in den Dienst entlassen worden: Brjantschaninow aus der höheren Klasse nach Dinaburg, Tschichatschow aus der niederen in ein Pionierlehrbataillon. So wurden sie eine Zeitlang getrennt. Im Jahre 1827 ersuchte Brjantschaninow dann um Versetzung in den Ruhestand, um sich anschließend in das Swirskij-Kloster zurückzuziehen, wo er als Novize lebte.

Einem anderen Bericht zufolge lagen die Dinge anders, und dies ist interessant, weil sich in dieser zweiten Version tiefgründiger und umfassender der poetische Kampf der jungen Asketen widerspiegelt, so, wie man sich in der Gesellschaft darüber erzählte. Nach den Berichten der Zeitgenossen schwankten Brjantschaninow und Tschichatschow, ob sie die Welt verlassen und ins Kloster gehen sollten, und entschlossen sich erst dazu, als sie sich vor die Notwendigkeit gestellt sahen, in echten Kampfhandlungen zur Waffe greifen zu müssen.

Als bei uns der Krieg mit der Türkei aufflammte, reichten Tschichatschow und Brjantschaninow demzufolge zeitgleich ihre Entlassungsgesuche ein. Dies war merkwürdig und regelwidrig, ja sogar peinlich, denn es ließ sie als Angsthasen dastehen. Dennoch ignorierten sie dies alles und baten darum, dass man sie aus dem Militärdienst in den Ruhestand versetze.

Der wahre Grund für ihre Ablehnung des Wehrdienstes wurde in ihren Gesuchen nicht genannt, doch ihre Nächsten und Freunde wussten, worin er lag – sie betrachteten das Militärhandwerk als unvereinbar mit ihren christlichen Überzeugungen. Als ehrliche und konsequente Menschen lehnten sie nicht nur den Waffendienst ab, sondern kamen zu dem Schluss, dass es ihnen ebenso unmöglich sei, der bei der Herstellung der zur Kriegsführung notwendigen Mittel zu dienen. Selbst die Errichtung von Verteidigungsanlagen betrachteten sie im Übrigen als etwas, das völlig ehrenhaft zu bewerkstelligen nicht möglich war. Es schien ihnen, dass man sich dazu entweder „in das System der Selbstbelohnung einordnen“ müsse oder aber gezwungen wäre, sich gegen jene aufzulehnen, deren Befehlen man doch zu gehorchen hätte.

Gewiss –die jungen Männer schätzten diese Gefahr vielleicht viel zu hoch ein, jedoch herrschte damals die Korruption allüberall, und selbst der Herrscher Nikolai Pawlowitsch sah sich, wie aus vielen später veröffentlichten Anekdoten deutlich wird, nicht dazu in der Lage, dieses furchtbare Übel seiner Zeit aufzuhalten.

Unseren „Mönchen“ schien es jedenfalls so, als bedeute „ehrbar zu dienen“, ständig mit all denen im Streit zu liegen, die ihren eigenen Vorteil suchten, und so Zerwürfnisse und Uneinigkeit hervorzurufen ohne jegliche Hoffnung darauf, die Rechtschaffenheit zu bewahren und den überall herrschenden Missbrauch unterbinden zu können. Sie hatten begriffen, dass für diesen Kampf eine größere Kraft nötig war, als sie bei sich selbst verspürten, und suchten daher ihr Heil in der Flucht. Ein mutigerer Kämpfer musste erst noch heranwachsen.

Ende der Leseprobe


[1] Brjantschaninow, Dmitrij Alexandrowitsch (1807-1867), 1826 Absolvent der Offiziersschule für Bauingenieure als Unterleutnant; 1827 aus dem Dienst entlassen, Novize im Alexander-Swirskij-Kloster; 1834 Hegumen (Klostervorsteher) der Sergius-Einsiedelei bei Sankt Petersburg; ab 1857 Bischof des Kaukasus und der Schwarzmeerregion.

[2] Tschichatschow, Michail Wasiljewitsch († 1873), 1826 Mönchsweihe (kurz nach Abschluss der Ingenieursschule); seit Mitte der 1830-er Jahre monastisches Leben in der Sergius-Einsiedelei als „Vater Michail“.

[3] Fermor, Nikolai Fjodorowitsch († Anfang der 1840-er Jahre), († Anfang der 1840-er Jahre), 1832 Absolvent der Ingenieursschule als Fähnrich. Ihm widmete N. A. Nekrasow das Gedicht „Der Ausgestoßene (Izgnannik)“.

[4] Charlotte von Preußen (1798–1860)

[5] Bischof Michail (Desnizkij), 1761 – 1821, ab 1818 Metropolit von Sankt Petersburg.

[6] nach heutigem Sprachgebrauch: Offiziere der Pioniertruppe (Anm. d. Üb.)

[7] Murawjow, Andrej Nikolajewitsch (1806 – 1874), Kirchenhistoriker, Dichter; zu jener Zeit nach abgeschlossenem Militärdienst Student der Moskauer Universität.

[8] Junge Offiziere oder Kadetten; Anspielung auf die französische Militärschule Saint-Cyr.

[9] Lomnowskij, Pjotr Karlowitsch (1798 – 1860), Lehrer, später (bis 1844) Inspekteur und schließlich Chef der Ingenieurschule.

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