Ein Interview der Zeitschrift „Foma“ mit dem promovierten Theologen Priester Pavel Chondzinskij, Dekan der theologischen Fakultät der PSTGU [Orthodoxe geisteswissenschaftliche Universität Hl. Tichon Moskau], über die theologischen und politischen Ansichten des heiligen Ignatij und über die Epoche, von der das Schicksal des Heiligen geprägt wurde.
Der heilige Ignatij Brjantschaninow (1807-1867) ist einer der bedeutendsten, brillantesten, zuweilen widersprüchlichsten Denker und Theologen des 19. Jahrhunderts. Er war ein „spiritueller Aristokrat“, ein Konservativer, ein Mann, der sein ganzes Leben lang völlig allein blieb und auf tragische Weise aus den Realitäten seiner Zeit herausfiel.
Dieser Beitrag erschien zuerst in russischer Sprache in der religiösen Zeitschrift „Foma“ (Thomas). Den Originalartikel finden Sie HIER.
Die Mitte des 19. Jahrhunderts – die Zeit des aktivsten Wirkens des hl. Ignatij – ist die Zeit der Herausbildung der Intelligenzija, mit ihren Fragen, ihren Problemen, ihrer Suche. Wie stand die „suchende Gesellschaft“ zur Kirche, gab es einen Dialog zwischen der Intelligenzija und der Geistlichkeit?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zurückgehen – an den Anfang des 18. Jahrhunderts, in die Zeit der Reformen Peters I. Was im Land im Zuge ihrer Umsetzung real geschah („auf dem Papier“ wollte Peter das Land europäisch aufgeklärt sehen), kann als sozialer Bruch bezeichnet werden. Der Zar rechnete damit, dass die kulturellen Veränderungen alle Bereiche der Gesellschaft betreffen würden. Aber wie bei vielen anderen Reformen gelang es ihm auch hier nicht, seinen Plan zu Ende zu führen.
Die europäische Kultur und Lebensweise drang nur in die oberen Schichten der Gesellschaft ein. Gleichzeitig war der eigentliche mentale Gehalt dieser Kultur nicht mehr sakral, nicht kirchlich, da der Prozess der Säkularisierung (der Trennung von öffentlichem und privatem Leben von der Kirche) im damaligen Europa bereits vollzogen war. Es hatte sich ein Modell säkularer Kultur entwickelt, ein Leben, in dem die Beziehung eines Menschen zu Gott seine Privatsache ist. In dieser Form gelangte sie nach Russland. Und während die Elite sie nach einiger Zeit annahm, verblieb das russische Volk in seiner Masse bei der alten, vorpetrinischen Lebensweise. Es bildete sich eine Situation heraus, die man „Parallelexistenz“ nennen könnte.
Gleichzeitig gab es neben dieser soziokulturellen Schichtung auch eine Differenzierung nach Ständen. In der Folge bildete der Klerus einen besonderen geschlossenen Stand mit unerschütterlichen Grundfesten, Traditionen und Prinzipien. Stammten frühere Bischöfe oft aus Adelsfamilien (so stammten beispielsweise die Moskauer Hierarchen Alexij und Filipp aus Bojarenfamilien), so kamen die russischen Bischöfe der Synodalzeit [seit Peter I.] nunmehr aus dem geistlichen Stand.
Was für Möglichkeit gab es, innerhalb dieses Standes aufzusteigen? Geistliche Bildung. Eine Person trat in das Priesterseminar ein, anschließend in die Akademie. Nach erfolgreichem Abschluss wurde dem Absolventen angeboten, entweder als Inspektor oder als Lehrer am Seminar zu bleiben. Künftig konnte er so bis zum Rektor aufsteigen. Parallel dazu nahm er das Mönchstum an und wurde so ein bereiter Kandidat für das Bischofsamt. Als Bischof dann bekleidete er laut Peters „Rangtafel“ eine Position, die der eines Generals entsprach, was bedeutet, dass er Zugang zu den oberen Schichten der Gesellschaft hatte.
Hier trat jedoch ein weiteres Problem auf, verbunden damit, dass die europäischen Universitäten schon immer theologische Fakultäten in ihrer Struktur hatten – im Gegensatz zu den russischen, die im 18. Jahrhundert entstanden und nie theologische Fakultäten besessen haben. Dies provozierte in Russland eine weitere Spaltung zwischen der gebildeten Gesellschaft und dem Klerus, da geistliche (d. h. theologische) Bildung nur durch die Zugehörigkeit zum klerikalen Stande erlangt werden konnte. Der heilige Ignatij Brjantschaninow hat im Übrigen selbst stark darunter gelitten, worauf ich noch zu sprechen komme.
So ergab es sich, dass die höchsten Kreise der Gesellschaft, die eine weltliche Bildung erhalten hatten und ein europäisches Kulturleben führten, mit dem Klerus in unterschiedlicher Sprache sprachen, da dieser über eine besondere geistliche Bildung verfügte und die vorpetrinischen, heiligen Lebensgrundlagen bewahrte. Darüber hinaus entstand eine paradoxe Situation in der Beziehung zwischen den Gläubigen aus der höheren Gesellschaft und dem Klerus – de facto blickte die gebildete Herde auf ihren Hirten, den Priester, herab.
Das heißt, jene, die wir als Intelligenzija bezeichnen würden, betrachteten Kirche und Priester im Großen und Ganzen herablassend?
Generell, ja. In dieser Hinsicht ist eine charakteristische Begebenheit überliefert. Metropolit Platon (Lewschin) (1737-1812) lehrte den späteren Zaren Paul [Pawel] I. [1754-1801] das Gesetz Gottes. Und als dieser Paul Kaiser wurde, beschloss er, seinem Lehrer mit einer staatlichen Auszeichnung zu danken – einem Orden, was grundsätzlich nicht üblich war. Der Klerus erhielt solche weltlichen Auszeichnungen nicht. Metropolit Platon selbst war furchtbar verärgert darüber, dass man ihn jetzt im Alter so „beschämen“ würde. Er bat Paul, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Daraufhin beschloss der Zar, sich von Iwan Wladimirowitsch Lopuchin, einem bekannten geistlichen Schriftsteller, Senator und Freimaurer, beraten zu lassen. Paul fragte ihn, ob es möglich sei, Bischöfen Befehle zu erteilen. Der Senator entgegnete, im Allgemeinen sei das natürlich nicht vorgesehen, solche Auszeichnungen stünden den Hierarchen der Kirche Gottes nicht zu, doch sei die jetzige Kirche sozusagen nicht mehr ganz Kirche, und die jetzigen Hierarchen seien mehr Beamte als Kleriker, also wäre daran nichts auszusetzen.
Mir scheint, dass dieser Fall anschaulich verdeutlicht, wie die Bildungsgesellschaft als Ganzes den Klerus wahrnahm.
Natürlich gab es Ausnahmen. Zum Beispiel den heiligen Philaret (Drosdow; 1783-1867), der vom einfachen Volk geliebt und sowohl von gebildeten Menschen (Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew zum Beispiel schätzte sehr dieKommunikation mit ihm) als auch in der höheren Gesellschaft respektiert wurde. Es ist bekannt, dass fast alle ausländischen Botschafter, die nach Moskau kamen, es für ihre Pflicht hielten, sich dem Moskauer Metropoliten vorzustellen – es war eine Geste des Respekts für eine konkrete Person.
Im Allgemeinen war die Haltung gegenüber dem Kirchenklerus aber geringschätzig. Dies wurde später von einem anderen Prozess überlagert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm die Theologie der Laien Gestalt an. Im säkularen Umfeld tauchten Menschen auf, die sich für theologische Probleme interessierten. Ohne Grundlage durch das Seminar begannen sie auf eigene Faust zu theologisieren. Außerdem entwickelten sie eine scharf ablehnende Haltung gegenüber der akademischen theologischen Ausbildung. Am meisten aber empörten sie sich über die These, es gebe eine sogenannte „Lehrkirche“. War es doch so, dass derselbe geistliche Stand, der so hochmütig behandelt wurde, in Bezug auf gebildete Menschen andererseits in der Position eines Mentors und Lehrers war. Deshalb begannen einige gläubige Laien, ihre eigene, wenn man so will, „Alternative“ zur geistlich-akademischen Theologie zu errichten. Eines der herausragenden Beispiele dafür ist Alexej Stepanowitsch Chomjakow, der in seinen theologischen Schriften fest darauf besteht, dass der Primat in der Kirche nicht der geistlichen Hierarchie, sondern der Gemeinschaft gehört. Gleichzeitig beginnen darüber hinaus gleichzeitig russische Schriftsteller und Dichter, die Idee ihrer prophetischen Vorbestimmung zu entfalten – vielleicht entstammt hieraus auch die Idee der besonderen Rolle der russischen Intelligenz. Nikolai Wassiljewitsch Gogol hat hierfür viel getan und anderen in dieser Hinsicht den Weg geebnet.
Mit einem Wort, wir haben ein ganzes Knäuel verschiedener Probleme vor uns, Prozesse, die schließlich zu einem radikalen Missverständnis zwischen Kirche und gebildeter Gesellschaft geführt haben. Zwischen ihnen entstand eine geistige und wertmäßige Kluft, die beide nie zu überwinden vermochten, und dann als Anfang des 20. Jahrhunderts die sogenannten „Philosophisch-religiösen Versammlungen“ stattfanden, die den Dialog zwischen Kirche und Intelligenzija befördern sollten, scheiterte die Idee und jeder blieb bei seinen Ansichten.
Was hob in diesem Fall den hl. Ignatij Brjantschaninow vor dem Hintergrund anderer religiöser, theologischer Denker des 19. Jahrhunderts besonders hervor? Warum wurde ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt?
Viele Besonderheiten des Schicksals dieses Heiligen lassen sich gerade auf das zurückzuführen, worüber wir oben gesprochen haben. Der heilige Ignatij war damals eine jener wenigen Ausnahmen. Er gehörte den höchsten sozialen Schichten an. Sein Vater war ein Page (eine Person im Hofwachdienst) unter Zar Paul I. Auf Drängen seines Vaters trat der zukünftige Heilige in die Militäringenieurschule in St. Petersburg ein – eine der elitärsten zu dieser Zeit. Dmitrij (sein weltlicher Name) war mit der damaligen High Society vertraut: mit Alexander Puschkin, mit Wassili Schukowski, mit den Großherzögen, mit dem zukünftigen Zar Nikolaus I. Doch ungeachtet der Tatsache, dass Dmitrij von Kindheit an voll in das weltliche Leben integriert war, zog es ihn zum Mönchtum hin. Und als er sich, bereits als Student, schließlich entschied, in ein Kloster zu gehen, ereignete sich eine für sein Leben typische Episode. Der Großherzog Michail Pawlowitsch wurde beauftragt, den jungen Mann von diesem Schritt abzubringen. Als er den jungen Mann traf, sagte er ihm, es sei „viel ehrenhafter, seine Seele zu retten, während man in der Welt bleibt“ – ein an sich beachtenswerter Gedanke. Doch der zukünftige Heilige antwortete der für ihn charakteristischen Bestimmtheit: „In der Welt zu bleiben und gerettet zu werden, ist dasselbe, wie im Feuer zu stehen und nicht verbrannt zu werden.“
Damit begann ein sehr schwieriger Weg. Ein Mann aus weltlichen Kreisen, ein Aristokrat, versuchte mit aller Kraft, in den Klerus, in das kirchliche Milieu einzudringen. Das Mönchtum selbst wurde im 19. Jahrhundert zum größten Teil vom einfachen Volk geprägt, und der heilige Ignatij (damals noch Novize Dmitrij) erwies sich hier als völliger Fremder. Dieses Gefühl des „Nicht-dazu-Gehörens“ trug er sein ganzes Leben lang in sich. Ja: Einerseits löste sich die gebildete Gesellschaft insgesamt von den christlichen Traditionen, wie das Volk sie lebte, aber andererseits stand denjenigen, die zurückkehren wollten, auch nicht immer die Tür offen. Daher konnte der heilige Ignatij so lange Zeit in keinem Kloster Fuß fassen. Obwohl er zunächst ein geistlicher Schüler des Mönchs Leo von Optina war, gab er am Ende seines Lebens zu verstehen, dass man ihn im Klosterleben falsch geführt habe – durch anstrengende körperliche Arbeit, äußere Demut und absolute Unterwerfung unter den Beichtvater. Dies war für einen Menschen aus dem einfachen Volk normal und gewohnt, für ihn dagegen stellte es sich als unannehmbar heraus, denn er war unter völlig anderen Bedingungen aufgewachsen. Nicht umsonst lesen wir bei ihm: „Wir haben heute keine inspirierten Mentoren.“ Und dies schreibt der Heilige zu Lebzeiten der berühmten Optina-Altväter …
Obwohl es nicht üblich ist, auf diese Weise über heilige Menschen zu sprechen, scheint es mir dennoch, dass der Heilige in gewissem Sinne ein tragisches Leben hatte. Er passte nicht in die Realitäten seiner Zeit. Es war, als befinde er sich am Rande des Lebens dieser Zeit: Der Heilige, der die weltliche Gesellschaft verlassen und das Mönchtum angenommen hatte, erwies sich sowohl im kirchlichen Umfeld als auch in den höheren Bildungsschichten als Fremder. Deshalb wollte ihn der Heilige Synod nicht ordinieren, weil er keine „richtige“ geistliche Ausbildung habe. Und nur auf persönliches Drängen von Zar Alexander II. wurde Archimandrit Ignatij zum Bischof ernannt.
Es war dieser Mangel an Anpassung an das gesellschaftliche Leben der Epoche, kombiniert mit herausragenden intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten und geistlichen Gaben, die den heiligen Ignatij aus dem kirchlichen und sozialen Umfeld des 19. Jahrhunderts hervorhob.
Wir wissen doch aber, dass zum Beispiel Michail Glinka und Karl Brjullow eine enge und herzliche Gemeinschaft mit dem Heiligen pflegten?
Das war nur eine persönliche Freundschaft. Übrigens beschäftigten Fragen des künstlerischen Schaffenscden Heiligen, und er versuchte in seinen Artikeln und Aufzeichnungen das Ideal einer wahrhaft christlichen Kultur zu entwerfen, die aus seiner Sicht nur mit der inneren asketischen Selbstverleugnung des Künstlers möglich ist . Er selbst bekannte in einem seiner Briefe, dass er versuchte, dem Beispiel von Puschkin in der Reinheit und Klarheit der Sprache zu folgen.
Ist es möglich, von einem zentralen Leitgedanken des hl. Ignatij zu sprechen, der seine Originalität, seine Heraushebung aus der einen oder anderen theologischen Tradition betonte?
Es gab einen Aspekt, der den hl. Ignatij grundlegend von der damaligen geistlich-akademischen Schule unterschied. Die Schule bestand darauf, dass die Heilige Schrift die wichtigste und einzige theologische Quelle ist, auf die man sich bei der Lösung bestimmter theologischer Probleme berufen muss. Das patristische Erbe hingegen muss auf seine Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Schrift geprüft werden, das heißt, man muss die Väter durch die Schrift betrachten.
Der heilige Ignatij schlug ein anderes theologisches Modell vor: Da es nicht ausreiche, das Evangelium zu kennen, sondern man es auch verstehen müsse, sagte er, solle man sich an diejenigen wenden, deren Leben das fleischgewordene Evangelium war. Nach Ansicht des Heiligen handelt es sich dabei in erster Linie um die asketischen Väter, jene Autoren, deren Schriften in die Philokalie (eine Sammlung spiritueller Werke des 4. bis 15. Jahrhunderts) aufgenommen wurden. Mit anderen Worten, man muss die Schrift vermittels der Väter betrachten.
In der Theologie des Heiligen gab es noch ein weiteres bemerkenswertes Merkmal, das auf seine Weise völlig einzigartig war. Um es zu verstehen, ist es notwendig, einen kleinen Exkurs zu machen. Im 17. Jahrhundert bildete sich in Europa eine inhaltlich neue philosophische Sprache heraus. Es entstand auch die Sprache der positiven Wissenschaft (die die Welt aus der Position ihrer Erkennbarkeit erklärte), in der neue Entdeckungen auf dem Gebiet der Physik, Chemie, Astronomie usw. gemacht wurden. Die Sprache der antiken Philosophie, in der die theologischen Schriften der alten Kirchenväter verfasst worden waren, gehörte der Vergangenheit an. Darauf musste irgendwie reagiert werden. Es galt zu erkennen, wie man eine „Schnittstelle“ (einen Raum der Interaktion) zwischen der alten Sprache der Theologie und den neuen philosophischen und wissenschaftlichen Sprachen schaffen konnte.
Der heilige Ignatij war damals vielleicht der einzige Denker, der die Sprache der positiven Wissenschaft aktiv mit seiner theologischen Argumentation verband. Der Heilige bemühte sich auf diese Weise, die theologische Aussage in eine Form zu kleiden, die für einen gebildeten Menschen seiner Zeit verständlich und nahe wäre.
Zum Beispiel bestand der Heilige in einer Polemik mit Theophan dem Klausner über die Natur der Seele darauf, dass sie (die Seele) auch materiell sei, wenn auch sehr subtil und für unsere Sinne unzugänglich. Der heilige Ignatij schrieb, dass sich der Begriff „Geist“ oder „spirituell“ in seiner Gesamtheit nur auf Gott beziehe. Alles Geschaffene (sei es die Natur, Engel, die menschliche Seele oder der menschliche Körper) ist grundsätzlich materiell, und nur Gott, der ungeschaffen ist, ist seiner Natur nach Geist. Und um diese These zu beweisen, bezog er Mathematik und Chemie ein und wies zum Beispiel darauf hin, dass es auf der Welt Substanzen gibt, die nicht sinnlich wahrgenommen werden, obwohl sie materiell sind, oder dass eine unendliche Zahlenreihe niemals zu einer wirklichen Unendlichkeit wird.
Es scheint mir, dass gerade die Erfahrung eines solchen Ansatzes, auch wenn er theologisch nicht immer einwandfrei war, in unserer Zeit von Interesse sein kann, angesichts der Veränderungen, die in der Sprache der Philosophie und Wissenschaft im vergangenen Jahrhundert stattgefunden haben.
Wurde der heilige Ignatij unter den Bedingungen der synodalen Epoche (mit ihren staatlichen Regelungen und Vereinheitlichungen) für die eine oder andere seiner, vielleicht nicht ganz „allgemein akzeptierten“ theologischen Positionen kritisiert oder angegriffen?
Es ging eher nicht um die theologischen Positionen des hl. Ignatij (obwohl seine Ansicht im Disput um die Natur der Seele recht scharf kritisiert wurde), sondern darum, dass er im Großen und Ganzen nicht in die Realitäten seiner Zeit passte. Ich hatte bereits gesagt, dass er ein Einzelgänger war, der sich aber gleichzeitig ganz eindeutig über seine Stellung und die damalige Gesellschaft geäußert hat. Obwohl beispielsweise Nikolaus I. persönlich den Heiligen zum Hegumen der Dreifaltigkeits-Sergius-Einsiedelei ernannte, um es in ein „Musterkloster“ zu verwandeln, urteilte der Heilige später sehr negativ über die zwanzig Jahre, die er dort verbrachte. Das Kloster selbst war sozusagen ein „Taubenschlag“ – es befand sich direkt an der Chaussee zwischen St. Petersburg und Peterhof, Sie können sich vorstellen, was es für die Mönche bedeutete, an einem solchen Ort zu leben.
Als Archimandrit Ignatij zum Bischof geweiht wurde, berief man ihn auf den kaukasischen Bischofssitz. Hier geriet er bald in Konflikt mit den Erzpriestern des örtlichen Konsistoriums (und tatsächlich hatte er recht), dann widersetzte er sich dem Projekt der Missionsgesellschaft, das vom kaukasischen Gouverneur, Fürst Barjatinskij, vorgelegt wurde, der ihm vorschlug, ihre Führung zu übernehmen. Am Ende zog sich der Heilige zurück. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits gesundheitlich angeschlagen. Gleichzeitig ist es wichtig zu beachten, dass der heilige Ignatij, den Briefen nach zu urteilen, all diese Schwierigkeiten mit einem tiefen Gebetsleben überwunden hat. Darin fand er seinen größten Trost und seine Freude. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang sein Brief an den Künstler Karl Brjullow – einen Mann, der offenbar dem Klosterleben fernsteht und dem er seine intimsten religiösen Erfahrungen anvertraut.
Hatte Ignatij Brjantschaninow eigene politische Ansichten? Wie sah er die Zukunft des Russischen Reiches?
Er erwartete nicht viel von gesellschaftlichen Veränderungen, da er glaubte, dass es keine Macht ohne Gewalt und keine Unterwerfung ohne Leid gibt und dass es immer so bleiben wird. Unter diesem Gesichtspunkt bewertete er auch die Abschaffung der Leibeigenschaft, wofür er übrigens sogar in Herzens „Die Glocke“ eines Artikels mit dem bissigen Titel „Der Sappeur in Christus Ignatij“ gewürdigt wurde.
Über die Zukunft Russlands äußerte sich der hl. Ignatij auch einmal in einem Briefwechsel mit dem General und Diplomaten Nikolai Murawjow-Karskij. Im Zusammenhang mit der Niederlage Russlands im Krimkrieg (1853-1856) schrieb der Heilige, dass man deswegen nicht den Mut verlieren solle, da die Zukunft der Welt Russland gehört. Und keine Kriege, wirtschaftlichen oder sozialen Umwälzungen können das Schicksal stören, da diese „weltweite Zukunft“ in der Heiligen Schrift vorhergesagt wird. Und dann gab der Heilige einen Hinweis auf das 38. und 39. Kapitel des Propheten Ezechiel, das von einem Volk spricht, das im 20. Kapitel der Apokalypse als das Volk des Antichristen dargestellt wird (obwohl dies im Brief nicht direkt erwähnt wird). So deutete der heilige Ignatij in seinem Brief an Murawjow-Karskij vorsichtig an, dass der Antichrist aus Russland kommen würde. Und hier bemerken wir wieder diese Bruchlinie, die dem Schicksal und der Weltanschauung des Heiligen innewohnt: In Russland selbst lag ihm alles am Herzen, aber dessen Zukunft sah er tragisch, man könnte sagen, schicksalhaft.
Was ist Ihrer Meinung nach aus dem großen Erbe des Heiligen Ignatij Brjantschaninow für den modernen Menschen am verständlichsten?
Es ist bekannt, dass merkwürdigerweise besonders gerne neu zur Orthodoxie gekommene Menschen den Bischof lesen. Sie sind offensichtlich beeindruckt von der kategorischen und unmissverständlichen Denkweise des Heiligen, die den Eindruck weckt, dass alles klar und verständlich ist: Das ist schwarz und das ist weiß. Aber es ist sehr wichtig zu verstehen, dass Ignatij Brjantschaninow selbst im Grunde nicht für die Laien, sondern für die Mönche geschrieben hat. Man könnte es so formulieren, dass seine Zielgruppe Menschen sind, die bereits eine gewisse geistliche Reife erreicht haben.
Ein Mensch, der diesen Nachlass für sich entdeckt, muss sich bewusst sein, dass bereits das Lesen und Verstehen des göttlichen Gedankens eines Heiligen von ihm eine entsprechende ernsthafte innere, nicht nur intellektuelle, sondern auch geistliche und moralische Anstrengung erfordern wird. Der heilige Ignatij war von Geburt an ein Aristokrat, und nachdem er Mönch geworden war, blieb er es weiterhin – natürlich im besten Sinne des Wortes, wie etwa der heilige Gregor der Theologe ein „geistlicher Aristokrat“ war. Dies darf nicht vergessen werden.
Ausschnitt aus einer Ikone von Alexej Koslow
Denjenigen, die sich bereit fühlen, mit einem solchen Text „in Gemeinschaft zu treten“, würde ich Ihnen raten, mit den zwei Bänden „Asketische Erfahrungen“ zu beginnen [bislang nicht in deutsch verfügbar]. Sie bestehen aus kleinen Reflexionen, in denen der Hl. Ignatij wichtige Hinweise zum geistlichen Leben gibt. Gleichzeitig sollte man diese Bücher nicht nur aus Neugier oder zur Horizonterweiterung lesen. Den wirklichen Nutzen aus den „Asketischen Erfahrungen“ des hl. Ignatij zieht man erst, wenn man beim Lesen erkennt, dass man Antworten auf Fragen gefunden hat, die einen schon lange beschäftigen, wenn man den Zusammenhang zwischen den Gedanken des Heiligen und dem eigenen Leben verspürt.
Artikel und Abbildungen unterliegen den Nutzungsbedingungen von „Foma“ (Nutzung unter Quellenangabe, d. h. Link auf den Originalartikel, kommerzielle Nutzung nur mit Genehmigung des Portals Foma). Dies gilt auch für die Übersetzung.